Was kümmert den Bürger auf seinem Wege zum Reichtum der Mitbürger auf seinem Wege der Armut? Nichts. Aber sofort erinnert er sich dieses Mitbürgers, wenn seine Ruhe und sein Besitz bedroht werden. Dann ruft er ihn auf ›zum gemeinsamen Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind‹. Dann zieht er plötzlich den Bruder, den Blutsverwandten, den armen Verwandten aus seinem Dunkel hervor. Und seine plötzliche Begeisterung wirkt ansteckend, – mein Gott, gewiß, zwar, freilich, allerdings, indessen, gleichwohl, – kurz, man ist kein Unmensch. Vergessen wir das Vergangene! Auf in den fröhlichen Krieg! Schulter an Schulter! Ein Volk, Ein Herz, Ein Schwert ...
- Christian Morgenstern
Klugwort Reflexion zum Zitat
In diesem Zitat von Christian Morgenstern wird auf satirische Weise die Heuchelei der Gesellschaft und den egoistischen Individualismus thematisiert. Der Bürger, der sich zunächst nicht um das Schicksal seiner ärmeren Mitbürger kümmert, erinnert sich plötzlich an deren Existenz, wenn sein eigener Besitz oder seine Sicherheit bedroht sind. Die plötzliche Begeisterung für den gemeinsamen Kampf gegen einen äußeren Feind verdeutlicht die Oberflächlichkeit dieser Verwandlung. Was zunächst mit Gleichgültigkeit behandelt wurde, wird unter dem Druck eines gemeinsamen Feindes zu einer Quelle von Solidarität.
Morgenstern kritisiert, wie schnell Menschen in Krisenzeiten die Prinzipien von Gemeinschaft und Brüderlichkeit für ihren eigenen Nutzen annehmen. Der Zynismus wird durch die wiederholte, fast mechanische, Aufzählung von Floskeln und Phrasen verstärkt, die die vermeintliche Ehrlichkeit und Einigkeit der Gesellschaft in Frage stellen. Die plötzliche „Begeisterung“ für den Krieg, „Schulter an Schulter“, wird als eine leere, fast hilflose Geste entlarvt.
Das Zitat regt dazu an, über die wahre Bedeutung von Solidarität und Gemeinschaft nachzudenken. Es fordert uns heraus, über die Beweggründe hinter unserem Handeln nachzudenken und zu hinterfragen, ob wir wirklich aus Mitgefühl handeln oder nur dann, wenn unsere eigenen Interessen betroffen sind. Es weist auf die Widersprüche in menschlichem Verhalten hin und stellt die Frage, wie ehrlich wir in unserer Hingabe an gemeinsame Ziele sind.
Zitat Kontext
Christian Morgenstern war ein deutscher Dichter und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, der für seine humorvollen und oft kritischen Werke bekannt war. In diesem Zitat wird seine Fähigkeit zur satirischen Schilderung menschlicher Eigenheiten und gesellschaftlicher Widersprüche deutlich. Morgenstern war ein scharfer Beobachter der menschlichen Natur und ihrer oft widersprüchlichen Handlungen, insbesondere in Bezug auf Themen wie Egoismus, Gier und Scheinheiligkeit.
Das Zitat spiegelt die sozialen und politischen Spannungen der Zeit wider, in der Morgenstern lebte, als die Klassenunterschiede und die soziale Ungleichheit immer sichtbarer wurden. Die ironische Darstellung der plötzlichen Solidarität im Angesicht eines äußeren Feindes erinnert an die Gesellschaften, in denen gemeinschaftliche Ideale und Werte oft nur dann betont werden, wenn sie dem eigenen Wohl dienen.
Philosophisch betrachtet stellt das Zitat die Frage nach der Authentizität von Gemeinschaft und Solidarität in einer Gesellschaft, die stark von individuellen Interessen und Materialismus geprägt ist. Morgenstern stellt die Frage, ob der Mensch wirklich in Gemeinschaft handelt oder ob diese nur dann entsteht, wenn das eigene Wohl durch eine äußere Bedrohung in Gefahr ist.
Auch heute bleibt dieses Zitat von Bedeutung, da es uns dazu anregt, über die Wahrhaftigkeit und den Wert von Solidarität und Zusammenhalt in der modernen Gesellschaft nachzudenken. Es fordert uns dazu auf, unsere wahren Beweggründe zu hinterfragen und uns zu fragen, ob wir in Zeiten des Wohlstands wirklich bereit sind, an die Bedürfnisse anderer zu denken.
Daten zum Zitat
- Autor:
- Christian Morgenstern
- Tätigkeit:
- deutscher Schriftsteller und Dichter
- Epoche:
- Moderne
- Mehr?
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- Emotion:
- Keine Emotion